Geboren um zu Laufen

Tarahumara

Das Laufen ist die natürlichste Form der Fortbewegung für den Menschen. Bevor er zum Homo Sapiens wurde und damit zum Denker kultivierten wir das Laufen und überlebten. In den Copper Canyons in Mexiko lebt ein Volk, das hunderte Kilometer läuft. Von Jane Kathrein

In den Copper Canyons in Mexiko gibt es Schluchten in die sich kaum ein Mensch wagt. Die Ränder fallen steil ab, der Weg dorthin ist gefährlich – auch weil Drogenschmuggler hier für Ordnung sorgen. Versteckt zwischen Felsen lebt in dieser Abgeschiedenheit ein Volk, das sich seit Jahrhunderten laufend fortbewegt.

Manchmal führt die Tarahumara der Weg so weit, dass sie fern der Heimat landen. In Sibirien etwa, wo einmal ein Tarahumara-Mann entdeckte wurde, er hatte sich auf ein Tramschiff verirrt und wurde wieder nach Mexiko zurückgebracht. Ein anderes Mal spazierte eine Frau durch eine Kleinstadt in Kansas. Da niemand dort ihre Sprache verstand, glaubten alle zunächst die Frau wäre verrückt. Es gibt viele Geschichten, die sich um die Tarahumara ranken. Ihr Kern erzählt von einem Volk, das außergewöhnlich lange Wege zurücklegt. Laufend. In dünnen Ledersandalen, die einen einzigen Zweck erfüllen – vor Dornen zu schützen.

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Barfuß laufen

Ein amerikanischer Journalist wollte das Geheimnis dieser Läufer lüften. Christopher McDougall, selber Läufer und immer wieder von Verletzungen geplagt wollte sich nicht mit der Diagnose der Ärzte, dass das Laufen nichts für ihn sei, hinnehmen und machte sich auf den Weg in die Copper Canyons. Herausgekommen ist ein Buch, das monatelang auf den einschlägigen Bestseller-Listen stand und in das Geheimnis der glücklichsten Läufer eintaucht.

Raramuri.

Männer, Frauen und Kinder durchlaufen Wüsten, Schluchten und Berge. Sie bezeichnen sich als Raramuri, jene die schneller laufen. Als die spanischen Eroberer in Batopilas Silberminen entdeckten, wurden die Tarahumara zur Minenarbeit gezwungen. Sie flüchteten in die versteckten Täler der Barrancas. Mit den Jahren haben sie sich immer weiter in das unwegsame Berggebiet zurückgezogen und leben noch heute in ihrer Tradition. Viele bewohnen noch immer Höhlen. Sie bauen Mais und Bohnen an. Wildtiere jagen sie im Dauerlauf die Berghänge hinauf und hinunter bis sie erschöpft niedersinken und erwürgt werden. Bis zu 170 Kilometer schaffen die Tarahumara ob nun zur Jagd oder in einem Wettrennen durch raue Schluchten ohne anzuhalten. Die Berge zwangen sie zu langen Fußmärschen. Der Rekord liegt bei 700 Kilometern in 48 Stunden.

Der Mensch ist der beste Ausdauerläufer auf dieser Erde, darin sind sich Evolutionsbiologen wie der Harvard-Professor Daniel Lieberman einig. Noch bevor er zum Denker wurde kultivierte er den aufrechten Gang und das Laufen. Dabei unterscheidet sich der Mensch in zwei wesentlichen Eigenschaften von anderen Säugetieren die er jagt und von denen er gejagt wird. Während die Tiere ihren Körper durch Hecheln kühlen, besitzt der Mensch 2,5 Millionen Schweißdrüsen über die er seinen Körper kühlt. Außerdem ist es dem Menschen möglich seinen Atem bewusst zu steuern. Und so erklärt sich auch warum die Tarahumara sowie auch andere Menschen auf dieser Erde in einer Hetzjagd mit Wildtieren s
iegen können. Der britische Mittelstreckenläufer Roger Bannister soll einmal gesagt haben: „Jeden Morgen wacht in Afrika eine Gazelle auf. Sie weiß, dass sie schneller als der schnellste Löwe laufen muss, sonst wird sie getötet. Jeden Morgen wacht in Afrika auch ein Löwe auf. Er weiß, dass er schneller laufen muss als die langsamste Gazelle, sonst wird er verhungern. Es spielt kein Rolle ob du Löwe oder Gazelle bist: Wenn die Sonne aufgeht, fängst du am besten an zu laufen.“

tarahumara21994 trat ein Tarahumara beim Leadville Trail Ultramarathon, ein 100 Meile Rennen durch die Rocky Mountains, gegen andere Spitzenläufer an. Er trug handgemachte Sandalen. Er war 55 Jahre alt. Und er gewann. Verletzungen wie wir sie in der westlichen Sportwelt kennen, sind den Tarahumara fremd. Ihre Füße sind stark und können sich noch an den Boden anpassen. Während die Laufwelt den besten Zugang zu Sportmedizin, Trainingsinnovationen und den neuesten Laufschuhen hat, verletzten sich jährlich bis zu 90 Prozent aller Marathonläufer. Dazu gibt es inzwischen auch zahlreich wissenschaftliche Untersuchungen.

Der Evolutionsbiologe Daniel Lieberman sieht unter Anderem auch in der modernen Beschuhung die Ursache für zahlreiche Verletzungen. Weil aber die beste Theorie nicht ohne Praxis standhält startete der Amerikaner ein Projekt unter seinen Studenten. Sie sollten jeden Tag barfuß oder auf dünnen Gummisohlen laufen. Die Beobachtungen waren verblüffend: instinktiv landeten die Studenten auf ihren Fußballen anstatt auf den Fersen. Ohne es zu wissen taten sie es den Tarahumara gleich. Sie laufen barfuß, landen sanft auf dem Vorderfuß und gehen dabei in die Knie, so als würden sie gerade von einem Stuhl springen wollen. Der ganze Körper bleibt dabei entspannt und weich.

In Deutschland startete zur selben Zeit ein weltweit bekannter Wissenschaftler ein ähnliches Experiment. Robert Schleip, an der Universität Ulm, warf seine Laufschuhe bei Seite und lief fortan barfuß durch die Berliner Parkanlagen. Schon bald waren seine Fersenschmerzen verschwunden und kehrten auch nicht mehr zurück. „Sperrt man die Füße in dicken Schuhen ein, verlieren sie nicht nur die Fähigkeit sich an den Untergrund anzupassen sondern auch ihre natürliche Elastizität“, weiß Robert Schleip heute.

Eine liebenswerte Eigenheit von einigen Freaks und Naturvölkern? Mitnichten. Laufikonen wie Abebe Bikila, zweifacher Olympiasieger, oder Zula Budd, der lange den 5.000 Meter Weltrekord hielt, sollen am liebsten barfuß gelaufen sein. In der westlichen Welt tragen die Menschen bereits Schuhe bevor sie überhaupt laufen können. Zugleich gab es noch nie so viele Fersen- und Achillessehnen-Verletzungen wie heute. Christopher McDougall’s Buch ist somit auch ein Plädoyer für das Barfuß-Laufen.

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